Der Anschlag auf das Oktoberfest von 1980 war der schwerste Terrorakt in der deutschen
Nachkriegsgeschichte. Warum sind die Ereignisse nicht schon viel früher verfilmt worden?
Daniel Harrich:
Es gab in der Vergangenheit mehrere Versuche namhafter Regisseure, das
Thema in einem Spielfilm umzusetzen. Aber alle sind daran gescheitert. Über die Gründe
kann man nur spekulieren. Auch wir erlebten anfänglich große Widerstände und mussten
eine Absage nach der anderen wegstecken.
Herr Chaussy, als investigativer Journalist stoßen Sie seit 30 Jahren bei Ihren Recherchen
ebenfalls auf viele Widerstände. Jetzt ist aus Ihrer Arbeit eine Politthiller á la DIE
UNBESTECHLICHEN und JFK geworden. Wie kam es dazu?
Ulrich Chaussy: Ich kenne Daniel Harrichs Eltern gut. Als sie im Jahr 2006 hörten, dass ich
meine Recherchen über das Oktoberfestattentat wieder aufnehmen werde, meldeten sie sich
bei mir und boten an, meine Arbeit künftig filmisch zu begleiten.
Daniel Harrich: Zunächst war ein großer Dokumentarfilm geplant. Doch 2008 traf ich Ulrich
Chaussy zum ersten Mal persönlich und war in zweierlei Hinsicht fasziniert. Einerseits von
ihm, weil er unbeirrt weiter recherchierte, obwohl er dafür oft belächelt wurde, andererseits
von seinen Rechercheergebnissen, die zu meiner Überzeugung führten: So, wie es offiziell
gewesen sein soll, kann es damals nicht gewesen sein. Und so wurde die Idee des
Spielfilms geboren?
Ulrich Chaussy: Beim Stichwort Spielfilm glänzten Daniel Harrichs Augen. Das ist ja sein
erlerntes Handwerk. Er lieferte bald ein erstes Drehbuch. Dass ich darin der Protagonist war,
hat mich überrascht und war nicht meine Idee. Als Dokumentarist bin ich eigentlich gewohnt,
im Hintergrund zu bleiben und über andere Leute zu erzählen. Aber Daniel Harrich hat mich
auf die Bühne gezogen.
Verteidigt heute wirklich noch jemand ernsthaft die Einzeltäter-Theorie?
Ulrich Chaussy:
Die Generalbundesanwaltschaft tat es in der Abschlussverfügung von 1982
und tut es bis heute in jedem ablehnenden Bescheid, wenn Journalisten anfragen, ob es
aufgrund neuer Erkenntnisse nicht an der Zeit wäre, das Ermittlungsverfahren neu zu
eröffnen. Die offizielle Wahrheit wird mit Zähnen und Klauen verteidigt, obwohl
wahrscheinlich, bis in die Bundesanwaltschaft hinein, niemand daran glaubt.
Heiner Lauterbach spielt Dr. Hans Langemann, den zwielichtigen Antagonisten des Films.
Warum hat ausgerechnet der damalige Chef der Abteilung Staatsschutz im Innenministerium
die Ermittlungen bewusst sabotiert?
Ulrich Chaussy:
Er war halt Überzeugungstäter. Er wollte partout nicht, dass bei der
Aufklärung des Falles ein Zusammenhang mit dem rechten Netzwerk deutlich wird. Dieses
Ergebnis war politisch nicht erwünscht. Franz Josef Strauß hatte das Problem des
Rechtsextremismus kleingeredet und die Wehrsportgruppe Hoffmann, zu der auch Gundolf
Köhler Kontakt hatte, als eine Art Kasperltruppe verharmlost. Diese Fehleinschätzung durfte
eine Woche vor der Bundestagswahl, bei der Strauß als CDU/CSU-Kanzlerkandidat antrat,
nicht auffliegen.
In einer Szene des Films herrscht Franz Josef Strauß Dr. Hans Langemann an, er solle sich
„gefälligst etwas einfallen“ lassen. War Strauß der Strippenzieher?
Daniel Harrich: Wir legen keine konkrete Schuld auf den Tisch. Natürlich hat Strauß in
dieser Situation – eine Woche vor der Bundestagswahl – reagieren müssen. Aber ob er im
Hintergrund agiert hat, können wir nicht nachweisen. Dagegen steht fest, dass Dr.
Langemann absolut skandalös vorgegangen ist. Er hat bewusst die Ermittlungen behindert,
Informationen an die Presse gegeben und möglicherweise auch Dinge vertuscht. Allein diese
Geschwindigkeit, mit der das alles passiert ist! Eine Bombe geht hoch, man weiß noch nicht,
was für ein Sprengstoff das war, hat nicht mal alle Zeugen hören können, aber schon nach
48 Stunden wird offiziell verkündet: Das war kein politischer
Ulrich Chaussy: Dr. Hans Langemann hat sehr kühl agiert. Er war ein Spezialist, der über
das Phänomen Attentat promoviert hat. Der Begriff des „vorgeschobenen Einzeltäters“
stammt aus seiner Dissertation. Darin steht auch, wie wichtig es ist, nach einem politischen
Attentat sofort im Umfeld der ausführenden Person zu ermitteln, damit nicht die Fäden ins
Hinterland der Tat schon zurückgezogen sind.
Daniel Harrich: Gerade weil Langemann ein absoluter Experte auf diesem Gebiet war, gehe
ich davon aus, dass er bewusst gehandelt hat und genau wusste, was er tat. Die eigentlich
zentrale Frage, die wir bislang nicht beantworten können, lautet: Handelte er aus
Eigeninitiative oder gab es mehr oder weniger explizite Anweisungen von höherer Stelle?
Der Film heißt DER BLINDE FLECK. Seit dem Auffliegen der NSU war viel von Behörden die
Rede, die „auf dem rechten Auge blind“ sind. Ist das Zufall?
Ulrich Chaussy:
Ich finde, ein „blinder Fleck“ ist das schönere Bild im Vergleich zu „auf dem
rechten Auge blind“. Da ist jemand, der sieht etwas einfach nicht, obwohl er denkt, er schaue
ganz normal in die Welt. Meine Recherchen über diesen langen Zeitraum haben mir gezeigt,
dass der Wille, bei rechtsextremer Bedrohung genau hinzuschauen, in Deutschland oft
unterentwickelt ist. Ich überarbeite gerade mein Buch „Oktoberfest. Ein Attentat“ von 1985.
Das wird neu erscheinen mit dem Untertitel „Wie die Verdrängung des Rechtsterrors
begann“. Denn das ist für mich der zentrale Punkt der Erzählung: Man hätte damals damit
beginnen können, die rechten Netzwerke genauer zu beobachten. Dann hätte es in
Deutschland gar nicht zu so etwas wie der NSU-Mordserie kommen müssen.
Steigen durch den NSU-Schock die Chancen, dass der Oktoberfestanschlag neu untersucht
wird?
Ulrich Chaussy:
Im Juni 2013, drei Wochen vor der Uraufführung des Films beim Münchner
Filmfest, gab es eine Vor-Uraufführung im Bayerischen Landtag. Bei der anschließenden
Diskussionsrunde habe ich ein Thema angesprochen, das mir seit Jahren auf der Seele
brennt. Seit ich im Bundesarchiv in Koblenz die Ermittlungsakten der Bundesanwaltschaft
über das Attentat habe einsehen können, weiß ich, dass es viele weitere Akten gibt:
sogenannte Spurenakten, die in München lagern.
Waren die verschollen?
Ulrich Chaussy:
Das bayerische Landeskriminalamt hat immer abgestritten, dass es sie
noch gibt. Aber nach der Filmaufführung im Landtag habe ich den bayerischen Innenminister
Joachim Herrmann gebeten, diese Akten dem Opferanwalt Werner Dietrich zugänglich zu
machen. Der Innenminister hat öffentlich – und später auch im BR-Magazin „Kontrovers“ –
versprochen: „Ja, das wird geschehen.“
Und? Geschieht es?
Ulrich Chaussy:
Laut Werner Dietrich werden sie zur Einsicht aufbereitet. Das ist
unglaublich! Plötzlich tauchen tausende Seiten auf, die angeblich nicht mehr da waren.
Welche Erkenntnisse erwarten Sie aus diesen Akten?
Ulrich Chaussy:
Ich hoffe, dass zutage kommt, was damals nach der serologischen
Untersuchung der abgetrennten Hand, die am Explosionsort gefunden wurde, in den Akten
festgehalten wurde. 1982 schrieb der damalige Generalbundesstaatsanwalt Kurt Rebmann
in seinem Schlussbericht, dass die Hand serologisch zu keinem der Toten des Anschlags
passt. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder haben die Serologen eine falsche Analyse
gemacht und die Hand gehörte doch Gundolf Köhler, dem ja als einzigem Opfer des
Anschlags die Hände abgerissen wurden. Oder aber es muss noch jemand an der Tat
beteiligt gewesen sein, der beim Anschlag seine Hand verloren hat.
Es müsste also einen Unbekannten geben, der schwer verletzt geflohen ist?
Ulrich Chaussy:
Genau. Und falls die Einsicht der Spurenakten das belegt, muss die
Bundesanwaltschaft das Ermittlungsverfahren wieder aufnehmen. Mit der DNA eines
Menschen, der so nah am Explosionszentrum war, dass ihm die Explosion eine Hand abriss,
hätte man sogar eine eindeutige Personenspur – sofern dieses Asservat nicht zerstört
worden ist.
Haben Sie Angst, dass die versprochenen Spurenakten noch kurzfristig geschreddert und
dem Anwalt Werner Dietrich vorenthalten werden?
Ulrich Chaussy:
Nach dem öffentlichen Bekenntnis des Innenministers wäre das die einzige
Möglichkeit, den Skandal der Asservate-Zerstörung noch zu toppen.
Daniel Harrich:
Ich glaube, dass Joachim Herrmann sein Angebot ernst meint. Die Zeit für
die Auseinandersetzung mit diesem Thema ist jetzt einfach reif.